Tee im Park

Wandel für die Zukunft

Die Grafen Bernstorff leben in elfter Generation in Schloss Gartow im Wendland und setzen auf Transformation.

Von Stephanie v. Selchow

Lautes Beifallklatschen erfüllt den großen Saal von Schloss Gartow bei Lüchow im Wendland. Soeben ist das erste Musikstück des Pfingstfestivals 2023 verklungen – ein Streichquintett von Mozart. Am Fenster zum Park stehen große Blumensträuße mit roten Rosen und weißen Pfingstrosen. Rot, Weiß, Grün sind die Wappenfarben der Grafen v. Bernstorff, die seit dem 17. Jahrhundert in elfter Generation hier leben.„Heimat. Innen. Außen.“ ist das Motto des diesjährigen Kammermusik-Festivals, bei dem über drei Tage sieben Konzerte erklingen – mit herrlichen Picknickpausen im Park. „Das Thema lag irgendwie in der Luft“, sagt die Pianistin Isabel Gräfin v. Bernstorff. Sie ist die Frau von Daniel Graf v. Bernstorff, dem Vetter des jetzigen Besitzers und seit zehn Jahren künstlerische Leiterin des Fests. Beim Eröffnungskonzert bedankt sie sich herzlich bei Catharena und Fried Bernstorff, die seit 2021 im Schloss Gartow leben, sowie Frieds Eltern Anna und Andreas, die in das nahe gelegene Gut Quarnstedt gezogen sind. Klassische Musik, besonders die Kammermusik, liegt der Familie seit Generationen am Herzen. Schon in den 1970er-Jahren förderte Anna junge Musizierende. Vor zehn Jahren gelang es Isabel Bernstorff zum ersten Mal, professionelle Musikerinnen und Musiker für ein Pfingstfestival in Gartow zu begeistern. Seitdem ziehen jedes Jahr Musizierende für eine Woche in die Ferienwohnungen auf dem Schlosshof. Dieses Mal gehört der Schauspieler Max v. Pufendorf zur elfköpfigen Festspieltruppe. Im Rahmen einer musikalischen Lesung liest er Texte zum Thema Heimat.

Was für ihn Heimat ist? Fried Bernstorff muss nicht lange überlegen. „Das ist hier“, sagt er. „In dieser Landschaft, wo ich aufgewachsen bin. Aber Heimat ist auch Familie – egal, wo sie gerade ist.“ Mit seiner Frau hat er zwei Töchter, Mathilde und Luise, und einen Sohn, Arthur. Catharena empfindet ihre Kernfamilie als Heimat, aber auch Südafrika, wo sie aufwuchs, bis sie acht war, und viel Zeit auf Farmen mitten im Nirgendwo verbrachte. Sie stammt aus der afrikaanse Familie van Zyl. „Südafrika ist für mich ein Sehnsuchtsort“, erklärt sie. „Manchmal muss ich da hin, die Luft dort atmen, die Gerüche einziehen, die Landschaft erleben.“

Kennengelernt hat sich das Paar über einen Cousin von Fried, mit dem es den Verein Wendepunktzukunft e. V. gründete. Damals studierte Catharena in Lüneburg Umweltwissenschaften und arbeitete als Projektleiterin in Amsterdam. Heute setzt sie sich als Ratsfrau für eine zukunftsfähige nachhaltige Ausrichtung der Samtgemeinde (typisch niedersächsischer Gemeindeverband) ein.

Beatus v. Zenker

Protest gegen Gorleben

„Aber schon bevor Fried und ich uns kannten, habe ich in Gorleben demonstriert“, erzählt die junge Gräfin. Ihr Schwiegervater, genannt „der alte Graf“, gilt als Ikone des Widerstands gegen die Wiederaufbereitung und Endlagerung von Atommüll in Gorleben. Andreas Bernstorff gehörte die größte Fläche über dem Salzstock Gorleben. Aber nicht einmal der mehrstellige Millionenbetrag, den die Atomwirtschaft ihm Ende der 1970er-Jahre dafür bot, konnten ihn bestechen. Eine Familie mit mehr als 300-jähriger Tradition verschleudert nicht einfach ihr Land, schon gar nicht für Atommüll – das hielt er für grundverkehrt. Für diese Haltung wollte man ihn aus seiner Partei, der CDU, ausschließen – bevor es dazu kam, trat er selbst aus.

„Gorleben hat uns alle hier geprägt, unser Bewusstsein für Umweltfragen geschärft“, betont sein Sohn Fried. Zum Glück betrage die Strahlung in dem nur sieben Kilometer entfernten Nachbarort „nur“ noch so viel wie in einer Großstadt. Das Erkundungsbergwerk Gorleben ist nach langem Kampf seit 2021 stillgelegt und soll zurückgebaut werden.

Helene Baronin v. Gugelberg

Fortschrittliches Familienstatut

Nachhaltig wirtschaften die Grafen Bernstorff aber bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert. Der Erbauer ihres Hauses, Andreas Gottlieb Graf v. Bernstorff, hatte ihnen 1720 in einem handschriftlich verfassten Familienstatut ans Herz gelegt, nicht auf den eigenen augenblicklichen Vorteil zu sehen, sondern an die Zukunft und das Beste der Nachkommen zu denken. Das darin enthaltene Fideikommiss ist zwar zivilrechtlich längst nicht mehr bindend, aber eine Teilung des Familienbesitzes stand nie zur Debatte. „Mir ist bewusst, welche Bevorzugung das für den Erben jeweils ist“, sagt Fried. „Aber auch welche Verantwortung.“ Für Waldbesitzer liegt Nachhaltigkeit ohnehin auf der Hand. Der Begriff stammt sogar aus der Forstwirtschaft.„Transformation ist für unseren Betrieb nötig, um ihn zukunftsfähig für unsere Kinder und Enkel zu machen und dafür zu sorgen, dass er sie weiterhin ernährt“, erklärt Fried Bernstorff. „Aber diese Aufgabe geht alle an. Wir sind ein Transformationsbetrieb mitten in einer gesellschaftlichen Transformation!“

Schloss Gröditz

Forst, Feld und Kultur

Die Gräflich Bernstorff’schen Betriebe stehen auf drei Säulen. Zum einen dem 5700 Hektar großen Wald, zum anderen der 900 Hektar großen landwirtschaftlichen Fläche und schließlich dem Kulturgut Gartow.

Der Wald wird seit Mitte der 1950er-Jahre vom monotonen Kiefern- in Mischwald umgewandelt, um ihn resilienter gegen Trockenheit und Schädlinge zu machen und den Artenschutz zu fördern. Der Bernstorff’sche Betrieb war einer der ersten in Deutschland, der nach den Richtlinien der Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft (ANW) arbeitete. Die Durchforstung ist wesentliche Lebensgrundlage für die Bernstorffs.

Auf einer großen Waldfläche, die bei einem großen Brand 1975 abgebrannt ist, möchte Fried Bernstorff einen Windpark errichten: Mit der aktuellen Ausrichtung der Bundesregierung rückt dieses seit Jahren verfolgte Ziel näher. Graf Bernstorff ist außerdem Vorsitzender des Aufsichtsrats von Biocen, einer vom ihm mitgegründeten Firma, die sich ganzheitlicher Beratung von Waldwirtschaft verschrieben hat.

Die landwirtschaftliche Fläche des Betriebs teilt sich je zur Hälfte in Acker- und Grünland auf. Im August 2013 wurde die Umstellung auf Ökolandbau begonnen, seit 2014 besteht eine Mitgliedschaft im Bioland-Verband, 2018 kam die Mitgliedschaft im Demeter-Verband hinzu. Bernstorffs möchten dazu beitragen, die bäuerliche Struktur der Region zu erhalten. Auf dem Demeterhof werden verschiedene Getreide- und Hülsenfruchtarten sowie Gemüse angebaut.

„Mittlerweile sind wir nicht nur klimaneutral, sondern sogar klimapositiv“, erzählt der junge Bernstorff stolz. „Mit unserer Landwirtschaft binden wir pro Jahr 2000 Tonnen CO2 und das, obwohl wir sehr viel Diesel verbrauchen.“ Allerdings, berichtet er, spürten sie beim Verkauf ihrer biologischen Erzeugnisse zurzeit auch die Inflation und Energiekrise.

Kunst im Zehntspeicher

Zum Kulturgut Gartow gehört neben dem musikalischen Pfingstfestival auch der neu ausgebaute Zehntspeicher auf Gut Quarnstedt. Im oberen Stockwerk sind in Zusammenarbeit mit dem Westwendischen Kunstverein Ausstellungen zu sehen, die durch die Nutzung des unteren Stockwerks mitfinanziert werden sollen. In dem von warmem Holz geprägten Untergeschoss kann gefeiert und getagt werden. Der junge Bernstorff möchte unter anderem Seminare zum Thema Transformation der Land- und Ernährungswirtschaft anbieten. Für kleinere Feiern bietet sich seit 2022 der Winter garten im Schloss an. Eine weitere Location schufen die jungen Bernstorffs mit dem großen Kirchgarten neben der barocken Kirche: mit einigen wenigen Steinelementen, wie man sie aus mediterranen Gärten kennt, und einem Platz in der Mitte, auf dem bei gutem Wetter kleine Konzerte stattfinden können. Verborgen hinter einer Hecke liegt der Familienfriedhof.

Die evangelisch-lutherische Kirche St. Georg steht unter Denkmalschutz. Auch sie wurde – passend zum Schloss –1724 von Andreas Gottlieb erbaut. Die barocke Innenausstattung der einschiffigen Saalkirche wurde nie zerstört. Als Kleinod gilt die barocke Hagelstein-Orgel. Noch immer sind die Bernstorffs Patronatsfamilie und fühlen sich für die Gemeinde verantwortlich. „Unsere Kirche war von Anfang an nie nur Schloss-, sondern immer Gemeindekirche“, erklärt Anna Gräfin Bernstorff. Sie freut sich, dass sich vor Kurzem ein jüngerer Pastor mit Frau und vier Kindern für die Gemeinde entschieden hat. So könne hoffentlich auch auf diesem Feld Transformation – der anstehende Nachbarschafts-Zusammenschluss von neun Gemeinden – gelingen.

Auch Anna Gräfin Bernstorff, geborene Freiin v. dem Bussche gen. v. Kessell aus Schloss Ippenburg, hat Heimat für sich definiert. Als junge Frau, erzählt sie, wollte sie weder adlig sein noch auf ein Schloss heiraten. Bei der Eröffnung des Pfingstfestivals zitierte sie den Dichter Johann Gottfried von Herder: „Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss.“