Kunst-Fenster

Das 2.„Weltwunder“ von Gottorf

Das Sammlerpaar Andy und Christine Hall macht Schloss Derneburg zu einem spektakulären Museum für zeitgenössische Kunst.

Von Stefanie v. Wietersheim

Es klingt wie ein Märchen: Ein amerikanischer Ölhändler kauft ein Schloss in der niedersächsischen Provinz von einem berühmten deutschen Künstler. Er renoviert es im großen Stil und zeigt eine Kollektion zeitgenössischer Kunst, die ihresgleichen sucht. Aus Schloss und Park wird ein Gesamtkunstwerk. Es ist kein Märchen, sondern Realität. Wie seine Frau ist der reiche Amerikaner ein gebürtiger Brite, leidenschaftlich der Kunst verfallen. Andy und Christine Hall sammelten seit Jahrzehnten, bevor sie von Georg Baselitz dessen langjährige Wohn- und Arbeitsstätte, Schloss Derneburg bei Hildesheim, zum Kauf angeboten bekamen. Im Jahr 2006 war der Kauf perfekt, und die Familie Hall begann ein Projekt, das zwischen zwei Kontinenten gemanagt werden musste. Die Sammlungen des Ehepaars und ihrer Hall Art Foundation umfassen an diversen Standorten insgesamt mehr als 5000 Werke mehrerer Hundert Künstler, darunter Georg Baselitz, Joseph Beuys, Nicole Eisenman, Olafur Eliasson, Eric Fischl, Anselm Kiefer, Barbara Krüger, Ed Ruscha, Julian Schnabel, Andy Warhol und Franz West.

„Derneburg war für uns ein gutes Schloss, weil es nicht dabei war zu zerfallen, aber natürlich brauchte es enorme Arbeit. Wie bei allen großen alten Häusern war uns klar, dass man das nicht in wenigen Monaten in einen Ort für unsere Sammlung umgestalten könnte“, sagt Andy Hall in unserem Telefoninterview. Zu seinem großen Kummer konnten er und seine Frau wegen der Corona-Pandemie lange nicht nach Deutschland reisen. Erst im Sommer 2022 kamen sie endlich wieder an den Harzrand. Derneburg ist sein Herzensprojekt, über das er auch auf seinem Instagram-Kanal in Bildern und Texten berichtet. Dass viele Deutsche Witze über die Provinzialität Hannovers und Niedersachsens machen, findet er unfair. „Unser Wunsch ist, dass die Leute merken, was für historische Schätze in diesem attraktiven Teil Deutschlands zu sehen sind.“

Wie viele deutsche Schlösser spiegelt Derneburg die politische und kulturelle Geschichte des alten Europa wider: Die Anlage geht auf ein 1213 gegründetes Augustiner-Chorfrauenstift zurück. Bald verarmte das Kloster, und wie in manchen vorreformatorischen Klöstern wurden die strengen Regeln immer weniger befolgt. Abt Heinrich Barnten vom Kloster Marienrode ließ 1443 das Kloster räumen und übergab die Ordenseinrichtung den Zisterziensernonnen aus Wöltingerode. In der Reformationszeit entstand in Derneburg ein lutherisches Jungfrauenstift, bis ins 17. Jahrhundert im Besitz der Herzöge von Braunschweig. 1643 wurde das Kloster rekatholisiert und von Zisterziensermönchen genutzt. Zwischen 1735 und 1749 entstanden die barocke Klosterkirche und die Gebäude der Domäne.

Im Zuge der Säkularisation wurde das Kloster im Jahr 1803 zur preußischen Staatsdomäne. Nach Besetzung und Plünderung durch französische Truppen fiel Derneburg 1815 an das Königreich Hannover. König Georg III. schenkte die verwahrloste Anlage dem hannoverschen Minister Ernst Graf zu Münster (1766–1839) als Dank für dessen Verhandlungserfolge beim Wiener Kongress. Sein Sohn, Georg Herbert Graf zu Münster, wandelte mit dem hannoverschen Architekten Georg Ludwig Laves das Klostergebäude in ein Schloss um.

Bis heute trägt es seine eindrückliche Gestaltung im englisch-gotischen Tudorstil, den der in London aufgewachsene Graf favorisierte. Während des Zweiten Weltkriegs diente das Schloss der Wehrmacht als Lazarett, nach dem Krieg betrieb die britische Rheinarmee dort ein Krankenhaus. 1955 kaufte das Land Niedersachsen den Grundbesitz für den Betrieb der benachbarten Domäne, das Schloss blieb weiter im Besitz der Familie Münster – bis diese es 1975 für 300 000 Mark an Georg Baselitz verkaufte.

Andy und Christine Hall

Das Schloss wird Museum

Das majestätische Schloss Derneburg mit seinem markanten Dach in ein öffentliches Museum für das 21. Jahrhundert umzuwandeln, wurde selbst für die an komplexe Kunstprojekte gewöhnte Familie Hall zu einer enormen Herausforderung. Obwohl noch nicht alle Visionen Realität geworden sind, ist ein Besuch in Derneburg auch für weit gereiste Kunstliebhaber ein berührendes Erlebnis. Denn hier trifft das europäische Erbe auf Visionen großer zeitgenössischer Künstler, deren Arbeiten in immer neuen Innenräumen und grünen Zimmern im Garten zu sehen sind. Plötzlich erscheinen in der Natur Außenskulpturen von Tracey Emin, Antony Gormley, Jeppe Hein, Jörg Immendorff, Jonathan Meese oder Julian Schnabel.

Wandelt man durch Kreuzgang und Nebengebäude, hat man das Gefühl, dass die Kunstwerke nur einem selbst geschenkt sind. Man taucht ein in eine magische, spirituelle Welt, abgeschieden vom Alltag. „Als wir das Haus gekauft hatten, erkannten wir, was für ein großartiger Rahmen der Kreuzgang und die Nebengelasse für unsere Sammlung von Kunstwerken mit christlicher Ikonografie sein würde“, erzählt Andy Hall. Die Gruppenausstellung zeigt insgesamt rund einhundert Gemälde, Skulpturen, Videos, Fotografien und Arbeiten auf Papier von mehr als dreißig Künstlern. Im Kreuzgang haben Kreuze von Robert Longo ihren Platz gefunden, unweit hängt die Fotoserie „Priests“ von Sante D’Orazio. Auch Werke des österreichischen Künstlers Hermann Nitsch sind zu sehen. „Ich kannte seine Arbeiten in der Tate Modern, aber wir besaßen nichts von ihm“, erzählt Andy Hall. Über den Galeristen Leo König erwarben die Halls Arbeiten von Nitsch in New York. Hermann Nitsch kam persönlich nach Derneburg und erarbeitete die Installation. „Die alten Mönchszellen sind schwierig für Ausstellungen, weil sie nicht so viel Platz bieten, aber wir haben das gut gelöst“, erklärt Hall. Die Zusammenarbeit mit dem örtlichen Denkmalamt war für das Team Hall nicht ganz einfach: „Wir haben für unser Projekt viel Lobbying machen müssen“, gibt der Hausherr zu. „Wir haben immer klargemacht, dass wir das Schloss mit einem hohen Standard renovieren wollen. Dass es nicht in eine Shopping Mall oder Vergnügungspark umgewandelt wird. Außerdem ist uns die Verbindung mit der lokalen Community wichtig“, betont Hall.

Kachelofen mit Porzellanmalerei

Viel Raum für Natur

Die Gartenanlagen werden seit der Pandemie als Biopark gepflegt. Wildblumen wurden gesät, die Rasenflächen bekommen nur alle paar Monate eine Maniküre. Damit folgt die Familie Hall dem Beispiel großer Familiensitze in England und von Anwesen in den USA, bei denen die ungezähmte Natur die Häuser einrahmt.

„Wir machen das auch bei uns in Vermont. Die Zeit, in denen Gärten wie Golfplätze aussahen, ist vorbei“, erklärt Andy Hall. Die Verbindung von Kunst und Ökologie macht Derneburg in jeder Jahreszeit zu einem sich stets wandelnden Kleinod.

Aus Schloss und Domäne ein Museum zu machen, war und ist eine Aufgabe, die durch die „Trial and error“-Methode immer wieder neu gelöst wird: Die anfangs konzipierte fünfstündige geführte Tour samt Lunch in der alten Küche wurde abgeschaff t. „Um ehrlich zu sein, war ich mit der langen Tour niemals zufrieden, denn das ist wirklich nur etwas für Diehard-Enthusiasten, die dazu bereit waren, 75 Euro Eintrittsgeld zu bezahlen“, sagt der Hausherr. Seit Kurzem kann man die Ausstellungen mit einem Audioguide allein entdecken oder eine kürzere Führung buchen. Das Ehepaar Hall engagiert ein Team von Studenten und jungen Menschen aus der Region, die ihre Aufgaben mit sichtbarem Enthusiasmus übernehmen.

Ein Tag in Derneburg ist ein umfassend eindrucksvolles sinnliches Erlebnis, weil es die Handschrift seiner Besitzer trägt. Die sichtbare Liebe zum Detail geht bis zur Auswahl der Seifen an den Waschbecken, der Blumendekoration und der Qualität der Croissants im Café. „Christine sagt immer: Man braucht eine Lady of the House und muss spüren, dass man willkommen ist“, sagt Andy Hall über seine Frau.

Kreuze im Kreuzgang

Facetime Walk

Wie managt man die Restaurierung eines großen Schlosses samt wechselnden Ausstellungen in der niedersächsischen Provinz von den USA aus? Der Kurator Alex Haviland fungiert als Statthalter vor Ort und als Organisator der Ausstellungen. „Wir telefonieren jeden Tag sicher eine Stunde, um die Baupläne, Restaurierungen und Präsentation der Kunstwerke zu besprechen“, sagt Andy Hall. „Alex macht mit mir oft einen Facetime Walk durch die Räume“.

Im Jahr 2025 sollen Flächen von 10 000 Quadratmetern für weitere Ausstellungen fertig sein, das Dreifache der aktuellen Räume. Das ehemalige Atelier von Georg Baselitz, das im Park liegt und in dem vor der Pandemie großformatige Arbeiten von Julian Schnabel gezeigt wurden, soll wieder geöff net werden, wenn das Heizungssystem neu angelegt ist.

„Wir fühlen sehr stark, dass man hier und in der Region viel sehen kann, Hildesheim als UNESCO-Weltkulturerbe, die Museen in Hannover und Wolfsburg, dazu Goslar“, sagt Andy Hall. Deshalb möchte er Derneburg zu einem Ort machen, der die Besucher dazu ermutigt, länger zu bleiben. So wird es in einem Nebengebäude ein kleines Hotel mit 24 Zimmern geben, ein gutes Restaurant und eine Kunstbibliothek. Bislang kamen 300 bis 400 Besucher an jedem Wochenende – 500 Gäste pro Wochenende und 25 000 pro Jahr ist das angepeilte Ziel. „Wenn wir endlich unser Hotel haben, wird es leichter sein“, ist Hall überzeugt. Auf der anderen Seite will die Familie den Ort nicht zum Massengeschäft machen. „Teil des Charmes ist, dass es ein kontemplativer, ruhiger Ort ist. Deswegen wollen wir die Intimität nicht verlieren“, sagt der Besitzer. „Das Haus hat uns gefunden“, davon ist Andy Hall überzeugt. Um Privatsphäre zu haben, möchte die Familie Hall sich in den sogenannten Fischerhäusern ein eigenes Refugium einrichten. Dabei soll Schloss Derneburg nicht nur Sitz der Familie werden. „Derneburg ist Teil der Hall Art Foundation, die auch nach unserem Tod bestehen bleiben soll – und wir hoff en, dass unsere Kinder und Enkelkinder es weiterführen werden. Schloss Derneburg soll als öff entliches Museum bestehen bleiben.“

Bis zum November 2022 ist in Derneburg die erste Einzelausstellung der gefeierten indonesischen Künstlerin Christine Ay Tjoe in Deutschland zu sehen. Zudem werden Jorge Galindos Flower Paintings, Frühwerke Anselm Kiefers, Arbeiten von Antony Gormley und Eugène Leroy gezeigt.